Inhaltsanalyse & Realkennzeichen

Die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse anhand von Realkennzeichen ist eine Methode, die für die Prüfung von Zeugenaussagen verwendet wird.

 

Die Liste der Realkennzeichen

 

A – Allgemeine Merkmale

1. Logische Konsistenz

2. Ungeordnet sprunghafte Darstellung

3. Quantitativer Detailreichtum

 

B – Spezielle Inhalte

4. Raum-zeitliche Verknüpfungen

5. Interaktionsschilderung

6. Wiedergabe von Gesprächen

7. Schilderung von Komplikationen im Handlungsverlauf

 

C – Inhaltliche Besonderheiten

8. Schilderung ausgefallener Einzelheiten

9. Schilderung nebensächlicher Einzelheiten

10. Phänomen gemäße Schilderung unverstandener Handlungselemente

11. Indirekt handlungsbezogene Schilderungen

12. Schilderung eigener psychischer Vorgänge

13. Schilderung psychischer Vorgänge des Angeschuldigten

 

D – Motivationsbezogene Inhalte

14. Spontane Verbesserungen der eigenen Aussage

15. Eingeständnis von Erinnerungslücken

16. Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage

17. Selbstbelastungen

18. Entlastung des Angeschuldigten

 

E – Deliktspezifische Inhalte

19. Deliktspezifische Aussageelemente

 

Erklärung und Bedeutung der Merkmale und Realkennzeichen

 

A – Allgemeine Merkmale

Die allgemeinen Merkmale enthalten die Kriterien: logische Konsistenz, Detailreichtum und unstrukturierte Darstellung. Sie gelten deswegen als allgemein, weil sie sich nicht nur auf Teile der Aussage beziehen, sondern als umfassendes Kriterium für die gesamten Inhalt gelten.

 

(1) Logische Konsistenz

Eine falsche Aussage erkennt man ohne ausgiebige Prüfung schon daran dass sie Elemente enthält die unmöglich sind. Das Kriterium gilt als zutreffend, wenn die einzelnen Bestandteile der Aussage eine schlüssige Reihenfolge erkennen lassen. Zum Beispiel, wenn man die „Szene“ nachspielen kann, ohne dass es zu einer unmöglichen Situation kommt.

Aussage eines „Unfallzeugen“: Ich hörte einen ganz lauten Aufprall. Also habe ich mich umgedreht und dann sah ich, wie das rote Fahrzeug den Motorradfahrer umgefahren hat.“

Die logische Konsistenz ist ein Kriterium, welches bei wahren Aussagen grundsätzlich vorhanden ist, sonst wäre die Realität nicht real geworden. Daher können auch Menschen von geringer Intelligenz über echte Erlebnisse problemlos berichten, ohne dass es einen Bruch in der Logik gibt. Ein Lügner muss permanent darauf achten, dass er solche Fehler nicht macht.

Aufdecken logischer Inkonsistenzen: Mit der richtigen Art der Fragestellung, kann man logische Ungereimtheiten gezielt provozieren.

Hierfür eignen sich Fragen zu Inhalten oder Abläufen, die selber einen logischen Bruch herbeiführen, und von denen aber der Lügner nicht wissen kann.

Beispiel:

A: Wo warst du gestern Abend?

B: Mit meiner Freundin im Cafe Paris.

A: Oh, ist ja toll, da war mein bester Kumpel Markus auch gestern (War er natürlich nicht). Hat gar nicht erzählt, dass er dich gesehen hat.

B: Ja, da war halt viel los.

A: Ja, er hat auch gemeint, dass die Hölle los war, Salsa-Abend… (War natürlich nicht). War´s schön?

B: Ja, war echt schön….

Wirksam ist auch eine nicht-chronologische Abfrage der Ereignisse. Echte Gedächtnisinhalte lassen sich problemlos auch in einer ungeordneten Reihenfolge wiedergeben.

 

(2) Ungeordnet sprunghafte Darstellung

Es klingt überraschend, aber eine wahre Erzählung klingt normalerweise chaotischer und ungeordneter als eine Lüge. Bei ausgedachten Erlebnissen wird meist ein strikt linearer Verlauf konstruiert, der chronologisch von Anfang zu Ende erzählt wird. Es gibt keine Nebenhandlungen, keine besonderen Abweichungen, die Rollenverteilungen sind klar konstruiert („Er der böse, ich der gute“) und meist wird das moralische Urteil auch gleich mitgeliefert.

Wahre Erzählungen sind meist weniger geordnet und enthalten meist auch korrigierende Einschübe. Allerdings muss man beachten, dass diese Unordnung mit jeder weiteren Erzählung abnimmt. Beispiel: Wenn der zehnte Kollege Sie nach Ihrem Urlaub befragt, dann ist der Handlungsverlauf linear.

Man wertet die unstrukturierte Wiedergabe als ein Zeichen für Wahrheit, wenn die logische Konsistenz dadurch erhalten bleibt.

 

(3) Quantitativer Detailreichtum

Bei echten Erlebnissen nehmen alle Sinne des Menschen Informationen auf. Dieser erhöhte Informationsgehalt spiegelt sich auch in den Berichten wieder. Einen Lügner würde es überfordern alle örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten im Detail logisch zu beschreiben.

Allerdings muss man auch hier beachten, ob der Erzähler rhetorisch „versiert“ ist. Erzählt er keine Details, weil er lügt, oder ist es einfach seine langweilige Art zu reden. Aus diesem Grund muss die „Baseline“ ermittelt werden.

 

B – Spezielle Inhalte

 

(4) Raum-zeitliche Verknüpfungen

Vorkommnisse geschehen nicht isoliert von den Lebensumständen der Menschen, sondern passieren während sie ihren Gewohnheiten, ihrer Arbeit oder ihrem Familienleben nachgehen. Sie haben zeitliche und räumliche Verankerungspunkte, innerhalb derer sie stattfinden. Beispiel: „Ich war an der Tankstelle und wurde überfallen.“ vs. „Ich war an der Tankstelle um Hustenbonbons zu kaufen, weil mein kleiner Sohn Halsweh hatte. Dort wurde ich überfallen.“

 

(5) Interaktionsschilderung

Zwischen Täter und Opfer läuft eine non-verbale Handlungskette ab, deren Einzelheiten sich gegenseitig beeinflussen. Je komplexer sie ist, desto wahrscheinlicher ist ein Wahrheitsgehalt, wenn sie logisch konsistent ist.

Beispiel: „Der Einbrecher kam durch das Fenster. Als ich ihn sah, versuchte ich ihn am Eindringen zu hindern. Er stieß mich erst weg, dann schlug und würgte er mich. Ich habe es geschafft ihm mit dem Briefbeschwerer eine zu verpassen, konnte dadurch wegrennen, aber er verfolgte mich durchs Haus….“

 

(6) Wiedergabe von Gesprächen

Es ist normalerweise äußerst schwierig einen Dialog zu konstruieren, der nicht hölzern und unnatürlich klingt. Insbesondere, wenn die beteiligten Personen aus einem völlig anderen Milieu stammen.

Beispiel: Der Milliardär, der in einem Umfeld aus Privatschulen und Eliteuniversitäten aufgewachsen ist versucht so zu reden, wie ein Gangsterrapper – das muss einfach schiefgehen.

Aus diesem Grund sind gezielte Nachfragen nach Dialogen und der Wiedergabe von Gesprächen ein hilfreiches Mittel, um Struktur- und Stilbrüche in der Aussage auszulösen. Ergänzend dazu können diese Teile der Aussage einer Langzeitanalyse unterzogen werden. Man testet, ob sich die Wiedergabe eines Dialoges gravierend verändert. Bei echten Erlebnissen ist das unwahrscheinlicher, denn sie sind meist besser im Gedächtnis verankert.

 

(7) Schilderung von Komplikationen im Handlungsverlauf

Komplikationen im Verlauf der Handlung sind unerwartete Wendungen, Probleme die auftauchen und die Handlungen beeinflussen, enttäuschte Hoffnungen, Misserfolge und ähnliches.

Solche Sachverhalte „sparen“ sich Lügner meist aus, denn es gehört sehr Mühe dazu sie einzubauen und sie erschweren die Aufrechterhaltung der Logik.

Beispiel: Kind hat sich die Finger an der Tür des Nachbarn eingeklemmt. Die Tür ist sonst immer zu, nur diesmal nicht, ausgerechnet als der Nachbar in den Urlaub gefahren ist. Daher muss der Bruder erst nach Hause rennen und die Eltern holen, während das andere Kind in der Tür festhängt und vor sich hin schreit.

 

C – Inhaltliche Besonderheiten

 

(8) Schilderung ausgefallener Einzelheiten

Es passieren Ereignisse, deren Eintreten äußerst unwahrscheinlich ist. Besonders glaubhaft sind sie dann, wenn ihr Einbau die geistige Leistungsfähigkeit des Erzählers (z.B. eines Vierjährigen) übersteigen würde.

Beispiel: Ein Freund wurde gerade von der Polizei erwischt, weil er mit dem Handy am Steuer telefoniert. Die Polizistin ermahnt ihn und holt ihren Block heraus. Hinter der Polizistin wird in dem Augenblick ein Radfahrer umgefahren. Die Polizistin dreht sich kurz um, und wieder zurück und sagt: „Da haben Sie jetzt aber Glück gehabt“ – und geht weg zur Unfallstelle.

 

(9) Schilderung nebensächlicher Einzelheiten

Irrelevante Informationen werden gegeben. Sie spielen für die Handlung zwar keine Rolle, deuten aber auch eher auf die Wahrheit hin, da sie die Geschichte unnötig verkomplizieren. Lügner verzichten eher darauf sie einzusetzen.

 

(10) Phänomengemäße Schilderung unverstandener Handlungselemente

Handlungen und Geschehnisse werden sehr konkret und verständlich wiedergegeben, obwohl dem Erzähler die Bedeutung dieser Abläufe nicht klar ist.

Beispiel: „Mein Papa kauft keine Zigaretten am Automaten. Er sagt, das ist zu teuer. Er geht immer in unseren Garten und nimmt sich etwas von den Blumen dort. Danach tut er sie auf ein Papier legen, dreht sie zusammen und raucht dann. Er sagt, das spart uns sehr viel Geld.“

 

(11) Indirekt handlungsbezogene Schilderungen

Es werden Inhalte erwähnt, die nicht mit der aktuellen Anschuldigung zu tun haben, aber der Zeuge stellt eine Assoziation zwischen den Themen her.

Beispiel: „Der Mr. X hatte schon immer ein gutes Verhältnis zu Kraft und Gewalt. Bei uns im Fußballverein in der Jugend war er immer der, der die meisten roten Karten bekommen hat, weil er auf dem Platz um sich getreten hat.“

 

(12) Schilderung eigener psychischer Vorgänge

Der Erzähler schildert bei der Wiedergabe der Geschehnisse seine unterschiedlichen Gedanken, Empfindungen und Reaktionen. Auch das ist ein Merkmal, welches eine Herausforderung an die geistigen Fähigkeiten des Lügners stellen würde.

 

(13) Schilderung psychischer Vorgänge des Angeschuldigten

Die wechselnden Gefühle des Beschuldigten wird wiedergegeben.

Beispiel: „Er setzte sich hin und weinte, er hatte wohl ein schlechtes Gewissen. Kurz darauf wurde er jedoch wütend und fing an wild auf das Inventar ein zuschlagen.“

 

D – Motivations-bezogene Inhalte

Bei den motivationsbezogenen Inhalten geht es um Aspekte, bei denen sich die Frage stellt, ob ein Lügner solche in seine Aussage mit einbauen würde. Solch Merkmale sind:

 

(14) Spontane Verbesserungen der eigenen Aussage

Lügner versuchen normalerweise besonders glaubhaft zu wirken und versuchen ihre Story möglichst fehlerfrei zu präsentieren. Dabei ist es eigentlich normal, wenn Korrekturen bei der Schilderung von Abläufen vorkommen. Diese erfolgen meist spontan und ohne eine Nachfrage des verhörenden.

 

(15) Eingeständnis von Erinnerungslücken

Das menschliche Gedächtnis ist kein perfekter Computer. Es ist normal, dass man sich nicht an jedes Detail erinnern kann. Insbesondere unter Stress engt sich die Wahrnehmung meist ein, so dass die Aufmerksamkeit nur noch auf einen winzigen Teilaspekt des Geschehens gelenkt wird. Lügner versuchen auch solche Situationen zu vermeiden.

 

(16) Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage

Der Erzähler räumt freiwillig ein, dass seine Aussagen Fehler in der Wahrnehmung, Verwechslungen oder Missverständnisse enthalten können.

 

(17) Selbstbelastungen

Das eigene Verhalten in der Situation oder gegenüber dem Beschuldigten wird als unangemessen angegeben.

Beispiel: „Ich verstehe ja, dass er auf mich losgegangen ist. Ich hatte zu viel getrunken, mich über seine Freundin lustig gemacht und ihn beleidigt. Aber deswegen muss man ja nicht gleich zu Gewalt greifen.“

 

(18) Entlastung des Angeschuldigten

Das Verhalten des Beschuldigten wird gerechtfertigt oder versucht zu entschuldigen. Offensichtliche Chancen ihn noch mehr zu belasten werden nicht wahrgenommen.

 

E – Deliktspezifische Inhalte

 

(19) Deliktspezifische Aussageelemente

Hier werden Inhalte daraufhin geprüft, ob sie sich mit den Erlebnissen und Denkmustern von Opfern eines ähnlichen Verbrechens decken. Allerdings muss man hier beachten, dass man sich solch Informationen in zahlreichen Foren und Internetseiten einholen kann.

Beispiel: Viele Menschen, die Opfer eines Einbruches geworden sind, sagen aus, dass ihnen nicht der materielle Verlust den größten Kummer bereitet. Oft berichten sie davon, dass es sich anfühlt, als hätte man ihren gesicherten Rückzugsraum zerstört. Die Geborgenheit des Ortes, den sie am meisten in der Welt lieben, hat man ihnen weggenommen.